Die Porträtserie «Orlando» entstand zwischen 2013 und 2021 und umfasst etwa 200 Werke. Dabei nimmt sie Bezug auf den gleichnamigen Roman von Virginia Woolf.
Der Roman erzählt die Geschichte des adligen Orlando, der als junger Mann im England des 16. Jahrhunderts lebt und nach einem mehrtätigen Schlaf zur Frau wird. Der Roman begleitet Orlando durch verschiedene Epochen bis ins 20. Jahrhundert. Woolf hinterfragt mit ihrem Werk festgelegte Geschlechterrollen und erforscht die fluiden Grenzen von Identität. Zudem werden darin gesellschaftliche Veränderungsprozesse, beispielsweise in Bezug auf Rollenbilder, veranschaulicht.
Die 1963 geborene Klodin Erb greift diese Thematiken auf und übersetzt sie in Form von Porträts in das Medium der Malerei. Bei der Wahl der Motive schöpft sie aus einem grossen Fundus kultureller Referenzen, die sich auch in der vorliegenden Auswahl niederschlagen. Dabei tauchen historische Vorlagen ebenso auf wie Personen der Gegenwart. Das Spektrum reicht von aktuellen Politkern über animierte Filmfiguren bis zu namenlosen Unbekannten. Ähnlich breit wie die Motivwahl ist auch die malerische Palette ihrer Umsetzung: Erb schöpft für diese Serie die Klaviatur ihres malerischen Könnens voll aus. So vereint die Serie Werke von einer fast naturalistischen Darstellung mit nahezu unsichtbarem Pinselstrich bis hin zur expressiven Auflösung des Motivs in pure Form und Farbe.
Die Werkauswahl wurde gemeinsam mit der Künstlerin entwickelt und fand unter der Zielsetzung statt, sowohl die motivische und technische Bandbreite der Serie aufzugreifen als auch eine Konsistenz in der Zusammenstellung beizubehalten – ein Auswahlprozess im Spannungsfeld zwischen Varianz und Griffigkeit.
Ausgangspunkt waren Motive, die eine Verbindung zur Konstitution des Museums zu Allerheiligen als Mehrspartenhaushaben: Das Motiv des Neandertalers bildet eine Verbindung zur Abteilung regionale Archäologie, Porträts der Queen (mutmasslich Queen Elisabeth I.) sowie einer Nonne schlagen eine Brücke zu historischen bzw. kunsthistorischen Sammlungsbeständen und ein Jesus-Porträt schafft eine Verbindung zur christlichen Ursprungsgeschichte des Museums.
Klodin Erb, Orlando #186, 2020. Öl auf Leinwand, 40 x 40 cm (Bildmass), Inv. A2518
Um die popkulturelle Dimension der Serie aufzugreifen, wurde das faszinierende Porträt eines Clowns ausgewählt, unverkennbar eine Anlehnung an Pennywise aus «Stephen King’s It» von Tommy Lee Wallace.
Die Darstellungen eines unbekannten Mannes und eines jungen Mädchens sind Teil des Serienstrangs, den die Künstlerin als «Normcore» bezeichnet. Dieser dient dazu, einen Kontrast zu den Motiven fliessender Geschlechtlichkeit in anderen Motiven herzustellen und die Spannweite des Spektrums möglicher Auslegungen oder besser: Auslebungen deutlich zu machen.
Klodin Erb, Orlando #160, 2020. Öl auf Leinwand, 40 x 30 cm (Bildmass), Inv. A2516
Die Darstellung der Künstlerin als Emoji fügt sich ein in eine lange Bildtradition der Selbstporträts und ergänzt diese um eine humorvolle, aus der digitalisierten Welt stammende Komponente.
Klodin Erb, Orlando #129, 2014 /2018. Öl auf Leinwand, 50 x 40 cm (Bildmass), Inv. A2519
Das Porträt von Kim Jong-un, das als Schenkung der Künstlerin in die Sammlung kommt, reizt dabei die Grenzen der Wiedererkennbarkeit aus und tangiert damit die Ränder des Porträt-Genres.
Die Zusammenstellung bildet die Vielfalt der Serie ab, ohne den Fehler zu machen, alle Komponenten aufnehmen zu wollen. Sie ermöglicht eine Vielzahl stimmiger Werkkonstellationen für diverse Ausstellungskontexte und bietet zahlreiche spannungsgeladene Verbindungen zwischen den Einzelwerken.
Erbs «Orlando» ist ein Feuerwerk der Porträtmalerei, das Grundmotive der Vorlage aufgreift und dennoch eine gänzlich eigene Handschrift trägt. Es ist die Handschrift, die geprägt ist von malerischer Experimentierfreude und einer Grenzen sprengenden Motivwelt von Jesus Christus bis Kim Jong-un.
Julian Denzler, M. A.
Kurator Gegenwartskunst, Museum zu Allerheiligen
Hier finden Sie die Beschreibung dieser Neuerwerbungen im Jahresbericht 2023/2024.